Die soziale Versorgung in Berlin wird fast vollständig von starken Marken getragen, die Du kennst:
AWO, Caritas, Diakonie, Paritätischer, DRK und Jüdische Gemeinde. Wir kümmern uns um alle Situationen, in den jemand Hilfe braucht. Mit Krankenhäusern, Kitas, Streetwork und vieles mehr.
Kann jede:r behaupten? Stimmt. Hier die Zahlen der Einrichtungen freier Träger im Vergleich zu Einrichtungen des Landes Berlin:
Was sind „Freie" Träger?
Die Freien Träger stellen die soziale Versorgung sicher – im staatlichen Auftrag. Nicht in einer Behördenstruktur, nicht gewinnorientiert – sondern ausschließlich unseren Werten verpflichtet. Ein zivilgesellschaftliches, weltweit einzigartiges System, das seit über 100 Jahren sehr gut funktioniert. Wir entwickeln Konzepte für soziale Strukturen, wir organisieren mit zehntausenden Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen konkrete Hilfen. Wir machen uns stark für die Schwächeren in der Gesellschaft, erklären den politischen Entscheider:innen mit Expertise und Erfahrung, wo Unterstützung gebraucht wird. So wie hier auf dieser Website…
Und warum macht der Staat nicht alles selbst?
Seit über hundert Jahren heißt es in Deutschland: Wer sich mit sozialer Versorgung am Besten auskennt, der soll sie übernehmen. Das Ganze heißt „Subsidiaritätsprinzip“ und macht absolut Sinn: Der Staat gibt Aufgaben ab, weil sich die Stadtmission zum Beispiel seit Jahrzehnten mit Wohnungslosenhilfe beschäftigt, die Stephanus-Stiftung sich besonders gut in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtighung auskennt, die Johanniter eine hohe Expertise in der Notfallversorgung haben und so weiter… Dafür bezahlt das Land Berlin. Eigentlich ein fairer Deal für alle: das Land beauftragt Expert:innen mit den wichtigsten Jobs Berlins. Und spart sogar, weil unsere sozialen Einrichtungen auch in Wirtschaftsfragen topfit sind. Das Ying und Yang des sozialen Berlins sozusagen...
Und wo liegt das Problem? Läuft doch alles.
Zahlreiche Hilfsangebote werden über Zuwendungen, also nur für kurze Zeiträume bezahlt. Das ist dann sinnvoll, wenn sie nur in einer krisenhaften Situation gebraucht werden. Aber auch wenn die Krise zum Standard wird – wenn die Jugendgewalt steigt, die Armen ärmer werden, immer mehr Wohnungslose auf den Straßen Berlins leben, stetig mehr Geflüchtete Berlin erreichen – werden Schuldnerberatung, Familienzentrum, Social Street Work, Obdachlosenunterkunft und so weiter trotzdem nur für ein Jahr bezahlt. Teilweise vom Land, teilweise vom Bezirk (falls das Land dem Bezirk genug Geld zur Verfügung stellt). Jedenfalls läuft die Bürokratiemaschine alle zwölf Monate aufs Neue los. Für eine Bezahlung, die ohne Spenden nicht funktioniert:
Es fehlt Geld für Verwaltung und Overheadkosten, sowie für Mieten, Material und Energie der sozialen Einrichtungen und 80% der krisenbedingten Kostensteigerungen werden ignoriert. Die Einrichtungen müssen draufzahlen bis es nicht mehr weitergeht.
Die Folge: Wohnungen und Gewerberäume sind kaum oder nicht mehr zu bezahlen, qualifizierte Mitarbeiter:innen sind nicht glücklich mit Jahresverträgen, Azubistellen werden nicht finanziert. Moderne IT, sanierte Räume, Klimaschutzmaßnahmen sind nur möglich, wenn die Gesellschaft genug Geld in der Tasche hat um fleißig zu spenden.Oder wenn größere Sozialeinrichtungen kontinuierlich zubuttern. In der Krise werden zahlreiche soziale Angebote zu Beatmungspatienten, anstatt ihre Hilfe auszuweiten.
107.000 Hauptamtliche und 53.000 ehrenamtlichen Mitarbeitende der Freien Wohlfahrtspflege halten die soziale Infrastruktur in Berlin am Laufen. Ihnen wird seit Jahren durch das Land Berlin vermittelt:
„Ihr seid Personal zweiter Klasse“.
Ein paar Beispiele: Das Gehalt der staatlichen Kita-Beschäftigten wird durch eine Hauptstadtzulage aufgestockt, während die Lohnsteigerungen und Corona- oder Energiezulagen vieler freier Träger nicht refinanziert werden. Der Senat plant die Gehälter seiner Angestellten auf Bundesniveau anzuheben - mit Steuergeldern, die von allen Bürger:innen gezahlt werden. Das ist nachvollziehbar, weil die Bewerberzahlen für den Staatsdienst einbrechen und generell Personal fehlt. Aber es kann nicht sein, dass damit eine künstliche Konkurrenzsituation geschaffen wird. Sie belebt nicht das Geschäft, sondern erzeugt Frustration bei den Mitarbeitenden, Bürgerinnen und Bürgern mit besonders hoher sozialer Motivation. Denn selbstverständlich haben alle Mitarbeitenden der Freien Träger einen Anspruch auf eine auskömmliche und marktgerechte Vergütung.
Die Folge: Freie Träger müssen ihre Tarifsteigerungen aus eigener Tasche zahlen und dafür soziale Angebote kürzen. Und zwar erheblich. Für beides reicht die staatliche Vergütung nicht und Geld kann nicht herbei gebetet werden. Ab 2024 geht es dabei um durchschnittlich 10%. Eine Loose-loose-Situation.
Der Berliner „Rekordhaushalt“ hat die Wirkung eines Sparhaushalts, er gefährdet ganz konkret soziale Angebote oder streicht sie aktiv zusammen.
Hier einige Kürzungsbeispiele von vielen…
„Wichtiger als Du denkst… Sucht- und Drogenberatungsstellen, Drug-Checking, Sprachmittlung für geflüchtete Menschen im Gesundheitsbereich. Das alles leisten Freie Träger in zahlreichen Projekten und Beratungsstellen, u.a. finanziert über das Integrierte Gesundheits- und Pflegeprogramm (IGPP). Allein hier plant der Senat 600.000 EUR einzusparen. Öffnungszeiten müssten dann reduziert und Angebote komplett eingestellt werden. Das bedeutet z.B, dass lebensrettende Dolmetschdienste bei der ärztlichen Versorgung geflüchteter Menschen nur noch eingeschränkt zur Verfügung stehen, dass das gerade erfolgreich gestartete Projekt Drug-Checking gefährdet ist und es Angebote für Kinder suchtkranker Eltern nicht in dem Umfang gibt, wie sie eigentlich gebraucht werden.“
„Wichtiger als Du denkst…Gesundheitsversorgung für wohnungslose Menschen. Im einzigartigen Wohnheim Nostitzstraße werden 43 Männer die zum überwiegenden Teil suchtkrank sind (Alkohol und Drogen) bzw. physisch und psychisch beeinträchtigt, professionell pflegerisch, medizinisch und pädagogisch betreut. Die geplanten Haushaltkürzungen bedeuten hier und in der Krankenwohnung in der Turmstraße für die Versorgung große Einschränkungen und würden nicht mehr in aller Breite durchgeführt werden können. Die Konzeption einer ganzheitlichen Betreuung ist in Gefahr. Auch die Ambulanz am Bahnhof Zoo – seit 29 Jahren fester Anlaufpunkt für Wohnungslose mit 5.000 Behandlungen pro Jahr - müsste bei Umsetzung der geplanten Kürzungen zwei Tage pro Woche schließen“
„Wichtiger als Du denkst… Jugendclubs als Orte der begleiteteten Persönlichkeitsentwicklung und Gewaltprävention. Vor 30 Jahren sammelten die Beatsteaks im diakonischen Jugendclub „Die Linse“ ihre erste Bühnenerfahrung. Neben anderen Jugendfreizeiteinrichtungen muss der Club in Lichtenberg schließen. Die staatlichen Förderungen reichen schon lange nicht mehr, Mittel aus dem Gipfel gegen Jugendgewalt oder eine bessere Finanzierung über den Haushalt sind nicht in Sicht. Denn auch die Bezirke werden nicht ausreichend ausgestattet.
„Wichtiger als Du denkst… Schwangerschaftsberatungsstellen. Im ersten Halbjahr 2023 haben allein die Beratungsstellen von pro familia Berlin 1.600 Hilfesuchende und Anfragen von Schulen zu sexualpädagogischen Angeboten aufgrund fehlender Kapazitäten absagen müssen, davon allein 597 Konfliktberatungen. Sollte die Kürzung umgesetzt werden, könnte es passieren, dass pro familia Berlin quasi geschlossen werden müsste.“
„Wichtiger als Du denkst… Krankenhäuser in freier Trägerschaft mit insgesamt 14.420 Betten. Die freien Kliniken sind unersetzlich für die Berliner Gesundheitsversorgung und stehen seit Jahren vor immensen wirtschaftlichen Herausforderungen. Während sie ums Überleben kämpfen, werden die Defizite des landeseigenen Vivantes-Konzerns Jahr für Jahr durch das Land Berlin ausgeglichen. Zusätzlich für die „Green Hospital“-Mittel zur energetischen Gebäudesanierung kurzerhand aus dem Haushaltsentwurf gestrichen.
„Wichtiger als Du denkst… Begleitung und Versorgungskoordination für Familien mit schwer und chronisch kranken Kindern durch den Traglinge e.V.. Durch die coronabedingten Lebenskrisen und die Ukrainekrise steigen die betreuten Familienzahlen in diesem Senatsprojekt stetig und können schon seit langem nicht mehr umfänglich bedient werden. Der steigende Bedarf wurde im Haushalt nicht anerkannt. Damit sind keine Dolmetscherleistungen mehr möglich und es können keine akuten Hilfen im Krisenfall angeboten werden. Auch für die Fachstelle MenschenKind, die sich ebenso um die Unterstützung von Familien mit schwerkranken und behinderten Kindern kümmert, sind drastische Kürzungen vorgesehen.“
„Wichtiger als Du denkst… Beratungstellen für geflüchtete Familien mit Kindern mit Beeinträchtigung. Unter den geplanten Kürzungen leiden Menschen, die sowohl eine Flucht- bzw. Migrationserfahrung als auch eine Behinderung haben und selbstverständlich auch deren Angehörige. Projekte wie FaMily-Health und Asylverfahrensberatungen sind von der Kürzung der bezirklichen Integrationsfonds in Höhe von 25% akut bedroht.“
„Wichtiger als Du denkst… Begleitprojekte, die Familien in der Zeit nach der Geburt unterstützen. „Känguru – hilft und begleitet“ schützt seit 15 Jahren junge Familien vor Überforderungs- und Belastungssituationen. Elke Büdenbender, Gattin des Bundespräsidenten sagt über das Projekt: ‚[Känguru] entlastet Eltern nicht nur kurzzeitig, sondern kann auch sehr nachhaltig wirken, da es Eltern langfristig stärken kann.‘ Nun soll das Programm ersatzlos gestrichen werden.“
„Wichtiger als Du denkst… Angebote zur Unterstützung im Alltag. Diese praktische Hilfen im Haushalt, zur Tagesstrukturierung oder Besorgung von Dienstleistungen entlasten vor allem die große Gruppe der pflegenden Zu- und Angehörigen, für die die freien Träger seit Jahren um eine höhere Wertschätzung kämpfen. Das betrifft die Kontaktstellen PflegeEngagement (KPE) und weitere unterstützende Angebote wie die "Diakonie Haltestellen", deren Schwerpunkt die Betreuung der Pflegebedürftigen ist. Das Land Berlin möchte dort 500.000 EUR einsparen. Weil sich im gleichen Maß die Kofinanzierung durch die Krankenkassen reduziert, summiert sich die Kürzung auf 1 Mio. Euro. Die Kürzung in Verbindung mit akuten Kostensteigerungen kann dazu führen, dass diese Angebote, die vorrangig auf ehrenamtlichem Engagement beruhen, massiv reduziert bzw. ganz eingestellt werden müssen.
Statements zum Berliner Haushaltsentwurf
Links & Downloads
Statements der freien Träger
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Verhandlungen für ein gerechteres System: Berliner Wohlfahrtsverbände fordern Gleichbehandlung ihrer Kita-Beschäftigten
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Pressestatement der LIGA Berlin zur aktuellen Haushaltssituation, September 2024
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Offener Brief der LIGA Berlin: Sozialsystem zweiter Klasse
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SOZIALBÜNDNIS Berlin: Sozialer Zusammenhalt statt Kahlschlagpolitik
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Statement: Symptome verschwinden nur wenn man die Ursachen beseitigt. Junge Menschen in gemeinsamer Verantwortung vor Gefährdungen schützen
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Statement: Ausbau und Absicherung der allgemeinen unabhängigen Sozialberatung
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Statement: LIGA-Fachausschuss Wohnungsnotfallhilfe sieht Gesundheitsversorgung Wohnungsloser in Gefahr
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Appell an die Mitglieder des Gesundheitsausschusses und die Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses: JETZT Schwangerschaftsberatung stärken und Angebote für Frauen in Notlagen sichern
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Stellungnahme zu den Antworten der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege auf die Berichtsfragen zu: Kapitel 0920 Titel 68406 Nr. 8 – Beratungsstellen nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz
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