Berlin ist im Kampf gegen die Wohnungslosigkeit gescheitert
Wohlfahrtsverbände sehen keine Chance mehr auf Zielerreichung 2030
Zum Start der Berliner Kältehilfe stellen AWO, Caritas, Diakonie, DRK, Paritätischer Wohlfahrtsverband und Jüdische Gemeinde fest: Das Ziel Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden ist in Bund und Land gescheitert. Die chronische Überforderung des Notsystems Kältehilfe ist ein deutliches Symptom. Berlin braucht jetzt einen Perspektivwechsel in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Dr. Ursula Schoen, Diakonie-Direktorin und LIGA-Federführung: „Auch wenn es schwerfällt und wir weiter alles in unserer Macht Stehende tun: Menschen ohne Obdach werden unser Stadtbild auf Dauer bestimmen. Die meisten von ihnen werden auf lange Sicht in unserer Stadt keine Wohnung, keine ausreichende psychiatrische Betreuung, keine ausreichende gesundheitliche Versorgung haben. Und es werden mehr. Wir müssen feststellen: Die bundesweite Vereinbarung und die Selbstverpflichtung zur baldigen Abschaffung der Wohnungslosigkeit ist in Berlin gescheitert. Umso mehr gilt es jetzt, das Hilfesystem weiterzuentwickeln, wo passgenaue Perspektiven für ein sicheres Leben in einer Wohnung geschaffen werden können. Jedes Schicksal zählt.“
2024 erreichte Berlin den Spitzenwert von über 47.000 Personen, die in Wohnheimen, Hostels und Pensionen untergebracht sind. Wer nicht längerfristig dort wohnen kann, lebt in verdeckter Wohnungslosigkeit entweder bei Freunden, Verwandten oder Bekannten, in Abrisshäusern, Brachen oder auf der Straße. Oder er versucht, in ganzjährigen Not- und Kältehilfeunterkünften einen Platz zu finden. Das zeigt: die Kältehilfe kann nicht isoliert vom gesamten Wohnungsnotfallhilfesystem betrachtet werden. Und selbst über dem Kältehilfe-System hängt das Damoklesschwert der pauschalen Minderausgaben im aktuellen Haushalt. Für 2024 konnte nur mit den Summen für das vorherige Jahr geplant werden. Für 2025 drohen drastische Einschnitte. Dringend erforderliche Projekte konnten und können unter diesen Voraussetzungen nicht umgesetzt werden. Wenn man über die regelmäßig überfüllten Unterkünfte hinwegsieht, ist die Kältehilfe zwar verhältnismäßig gut ausgestattet – aber dauerhaft auf einem sehr geringen fachlichen Niveau.
Der Blick auf das gesamte System der Wohnungsnotfallhilfe zeigt, dass noch viel gemeinsame Arbeit vor uns und dem Land Berlin liegt. Die wesentlichen Gründe sind fehlende Haushaltsmittel, ein fehlender landesseitig gesteuerter systematischer Prozess zur Schaffung von neuem und bezahlbarem Wohnraum, zur Identifizierung und Nutzung leerstehender Wohnungen und Gebäude, ein fehlender konkreter kleinzieliger Maßnahmenplan, die permanent wachsende Zahl untergebrachter wohnungsloser Menschen ohne den entsprechenden Aufwuchs von Plätzen, fehlendes Verwaltungspersonal.
Prof. Dr. Ulrike Kostka, Direktorin des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin: "Wir müssen alles tun, um einen menschenwürdigen Umgang mit obdach- und wohnungslosen Menschen zu garantieren. Hierfür brauchen wir qualitativ bessere Rahmenbedingungen in ASOG-Unterkünften. Die Menschen benötigen regelmäßige sozialarbeiterische Unterstützung, um ihre Notsituation zu überwinden und den Übergang in eine Wohnung zu schaffen. Zu einem menschenwürdigen Umgang gehört auch die Sicherstellung einer medizinischen und psychiatrischen Versorgung für alle. Sparen wir nicht an der falschen Stelle, sonst bleibt nicht nur die Menschlichkeit auf der Strecke - es entwickeln sich auch hohe Folgekosten. Die ambulante Gesundheitsversorgung, zu der auch die Caritas-Krankenwohnung gehört, ist nicht nur für viele wohnungslose Menschen die einzige Behandlungsmöglichkeit - sie entlastet auch das vielfach teurere stationäre Krankenhaussystem."
Cornelia Tiez, Einrichtungsleitung Gitschiner 15: „Überlebenswichtig sind für Obdachlose im Berliner Winter genügend bedürfnisorientierte Schlafplätze in der Kältehilfe und auch genügend Tagesaufenthalte. Über den Winter hinaus benötigen sie ganzjährig geöffnete Tageseinrichtungen, wie z.B. das Zentrum
Gitschiner 15. Gitschiner 15 ist ein Kultur- und Sozialzentrum für Erwachsene, vor allem für die, die mit wenig Geld und ohne Wohnung leben müssen. Träger ist die Evangelische Kirchengemeinde vor dem Halleschen Tor, die dieses Zentrum seit 24 Jahren nur mit Hilfe von Spenden und Stiftungsunterstützungen erhalten kann. Weil Gitschiner 15 neben existentieller Hilfe auch viele Angebote zum Aktiv- und Kreativwerden organisiert, passt die Einrichtung bisher nicht in die Förderkriterien der Regelförderung der Wohnungslosenhilfe. Gitschiner 15 würde gern weitere Hilfe anbieten: auch in der Nacht. Deshalb wird die Evangelische Kirchengemeinde vor dem Halleschen Tor im nächsten Winter u.a. Kooperationspartner zu einer "Zukunftswerkstatt" einladen, um neue Ideen zu entwickeln, die die Gitschiner 15 aus der langjährigen prekären wirtschaftlichen Situation herausführen können."
Selbst wenn das Land Berlin jetzt notwendige Projekte in den Haushalt einplanen würde, wäre eine Umsetzung bis 2030 unmöglich. Bei allem Bemühen der Sozialverwaltung ist es an der Zeit, sich ehrlich zu machen und zu verstehen: Wir dürfen nicht aufgeben und müssen auch in schwierigsten Haushaltslagen alles tun um direkt wirkende Hilfen zu ermöglichen. Denn: Die Arbeit der Freien Träger für Obdach- und Wohnungslose ist nicht verhandelbar. Existenzielle soziale Bedarfe sind nicht verhandelbar.
Die Einrichtungen und Projekte der LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege stellen 100% aller ganzjährigen und Kältehilfe-Notunterkünfte sowie 100% aller Wohnungslosen- und Suchtberatungen in Berlin.
Die Berliner Kältehilfe | Infos und Zahlen
Mit der Berliner Kältehilfe schützen Kirchengemeinden, soziale Träger und Hilfsorganisationen wohnungslose Menschen von Oktober bis März vor dem Erfrieren. Im kommenden Winter stehen nach aktuellem Stand ca. 1010 (im Oktober: 735) Notübernachtungsplätze zur Verfügung, davon knapp 550 (im Oktober: 275) „reine“ Kältehilfeplätze. 5 weitere Kältehilfeeinrichtungen sind aktuell noch in der Planung und Prüfung.
Links
www.kaeltehilfe-berlin.de
www.ligaberlin.de
www.gitschiner15.de
Hintergrund: LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege
In der LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege haben sich in Berlin das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (Federführung 2023/24), der Caritasverband für das Erzbistum Berlin, die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Landesverband Berlin, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin, der DRK Landesverband Berliner Rotes Kreuz sowie die Jüdische Gemeinde zu Berlin zusammengeschlossen. In den sozialen Einrichtungen, Diensten und Projekten der LIGA sind in Berlin rund 107.000 hauptamtliche und etwa 53.000 ehrenamtliche Mitarbeitende tätig. Rund 150.000 Menschen sind zusätzlich persönliche Mitglieder in den Verbänden der LIGA Berlin, die wiederum ca. 1.200 Initiativen und Träger vertreten.
Kontakt für Rückfragen:
Sebastian Peters, Pressesprecher und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit
Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (DWBO)
peters.s@dwbo.de | Tel. 0173 60 333 22 | www.ligaberlin.de | www.dwbo.de/wichtiger-als-du-denkst I #wichtigeralsdudenkst
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