Ostdeutschland im Blick behalten
06.05.2025
Die diakonischen Landesverbände Ostdeutschlands melden sich anlässlich der Kanzlerwahl und zum Start der neuen Bundesregierung aus CDU und SPD zu Wort.
Berlin/Magdeburg/Radebeul/Schwerin, 6. Mai 2025
Mit großer Erwartung und Hoffnung blicken die ostdeutschen Landesverbände der Diakonie – Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Mecklenburg-Vorpommern, Mitteldeutschland und Sachsen – auf den Start der neuen Bundesregierung, eingeleitet durch die Wahl des Kanzlers. Die Diakonie wünscht der neuen Bundesregierung sowie allen demokratischen Abgeordneten des Deutschen Bundestages Gottes Segen, Weisheit und Entschlossenheit für ihre Arbeit in herausfordernden Zeiten.
Die ostdeutschen Landesverbände vertreten mit ihren mehr als 7.000 sozialen Einrichtungen und Werken rund 131.000 hauptamtliche Mitarbeitende. Die spezifischen sozialen Herausforderungen in Ostdeutschland sind sichtbarer, spürbarer und drängender als in anderen Bundesländern. Strukturelle Ungleichheiten und biografische Brüche prägen viele Lebensrealitäten in der Region. Die Diakonie erwartet, dass die Politik der neuen Bundesregierung diese Bedingungen in Ostdeutschland ernsthaft in den Blick nimmt.
Ostdeutschland nicht nur mitdenken – Ostdeutschland gestalten
Die Diakonie begrüßt, die beabsichtigte Fortführung der Institution einer Ostbeauftragten durch die neue Bundesregierung ausdrücklich. Diese Stelle schafft die notwendige Basis, um ostdeutsche Anliegen auf Bundesebene strukturiert zu bündeln und zu vertreten. Vertrauen wächst dort, wo Anliegen ernst genommen und Perspektiven eröffnet werden. Ostdeutschland braucht eine Politik, die zuhört, Brüche versteht und gemeinsam mit den Menschen tragfähige Lösungen entwickelt.
Sozialstaat sichern – Bürgergeld nicht aushöhlen
Ein funktionierender Sozialstaat ist der Grundpfeiler einer solidarischen Gesellschaft. In Ostdeutschland (einschließlich Berlin) sind 7,6 Prozent der Bevölkerung auf Bürgergeld angewiesen, im Westen liegt die Quote bei 4,6 Prozent. Diese Zahlen verdeutlichen die langfristigen Folgen wirtschaftlicher Transformationsprozesse seit 1990.
Die Pläne der neuen Bundesregierung, das Bürgergeld zu einer „neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende" zu entwickeln, bewertet die Diakonie kritisch. „Wer das Bürgergeld vorrangig unter dem Gesichtspunkt einer zahlenmäßig geringfügig missbräuchlichen Nutzung diskutiert, verkennt die soziale Realität der meisten davon betroffenen Menschen“, warnt Dietrich Bauer, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Sachsen. „Das Bürgergeld ist kein Freifahrtschein, sondern ein Instrument zur Stabilisierung in Notlagen – die Hilfe zur Selbsthilfe, die Menschen in schwierigen Lebenslagen eine eigenverantwortliche Perspektive eröffnet.“
Die weiterhin hohe Zahl von Leistungsbeziehenden im Osten spiegelt die tiefgreifenden Umbrüche nach der friedlichen Revolution in der DDR wider, in deren Folge Millionen Menschen ihre Arbeit verloren. „Hinter diesen Zahlen stehen persönliche Schicksale. Wir appellieren an die neue Bundesregierung, das menschenwürdige Existenzminimum nicht infrage zu stellen und an den Grundsätzen eines solidarischen Sozialstaats festzuhalten“, so Bauer. Wichtig ist, arbeitslose Menschen intensiv zu begleiten, zu fördern und weiterzubilden, damit sie nachhaltig in Arbeit kommen können.
Demokratieförderung stärken
Das Bekenntnis der neuen Bundesregierung zur Stärkung der demokratischen Kultur ist ein wichtiges Signal. Diakonische Einrichtungen leisten in vielen Regionen Ostdeutschlands einen Beitrag zur politischen Bildung, Demokratieförderung und sozialen Integration.
Mit der angekündigten Überprüfung des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ wird auf die Bedeutung langfristiger und oft schwer messbarer Wirkungen hingewiesen. „Projekte der politischen Bildung benötigen Zeit, Vertrauen und verlässliche Strukturen. Gerade in Ostdeutschland sind langfristig geförderte Projekte unverzichtbar, um unsere liberale Demokratie zu schützen und lebendig zu halten. Es braucht ein Demokratiefördergesetz“, erklärt Oberkirchenrat Christoph Stolte, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland.
Pflege braucht jetzt Perspektive und Flexibilität für alle
Die demographische Entwicklung und die wachsende Überalterung der Gesellschaft im Osten stellen das Pflegesystem vor große Herausforderungen. Der überwiegende Teil (etwa Dreiviertel) der Pflegebedürftigen wird in der Häuslichkeit versorgt und unterstützt. Daher ist es dringend notwendig, dass pflegende Angehörige, auch im Rentenalter, besser abgesichert werden. Das kann durch Maßnahmen wie eine Lohnersatzleistung und zusätzliche Rentenpunkte erreicht werden. Der Zugang zu (Unterstützungs-)Leistungen der Pflegeversicherung muss noch transparenter und einfacher werden. Auch so können die An- und Zugehörigen vor Überlastung geschützt werden.
Im „Pakt für Pflege“ in Mecklenburg-Vorpommern haben sich beispielsweise die Akteure in der Pflege zusammengeschlossen, um den besonderen Herausforderungen gerecht zu werden und gemeinsam Lösungen vor Ort zu entwickeln.
Alle Menschen müssen sich eine gute Pflege leisten können. Nur durch eine Pflegevollversicherung mit einem bezahlbaren Eigenanteil statt der heutigen „Teilversicherung“ können Pflegebedürftige vor unabwägbaren finanziellen Risiken und Armut geschützt werden. Dafür eine berechenbare Eigenvorsorge aufzubauen, muss realistisch umsetzbar bleiben. „Die Bundesregierung muss endlich eine Reform der Pflegeversicherung auf den Weg bringen, die ihren Namen verdient“, sagt Henrike Regenstein, Vorstand des Diakonischen Werkes Mecklenburg-Vorpommern e.V. „Ein würdevolles Leben im Alter auch mit Pflegebedürftigkeit an einem selbst gewählten Ort gehört in unserer Zeit unabdingbar zu den sozialen Grundleistungen und darf nicht vom Einkommen abhängen. Pflegende Angehörige und Pflegekräfte leisten einen unvergleichlichen Beitrag für das Miteinander in unserer heutigen Gesellschaft. Sie alle haben es verdient, dass die neue Bundesregierung die schon lange überfälligen Maßnahmen und angemessene Veränderungen für eine zukunftsfähige Pflege auf den Weg bringt.“
Kommunen stärken – Zukunft sichern
Sozialdienstliche Aufgaben brauchen eine verlässliche und auskömmliche Finanzierung. Die ostdeutsche Diakonie begrüßt die geplante „Verschlankung des Förderwesens“, die es insbesondere ostdeutschen Kommunen erleichtern kann, wichtige soziale Aufgaben zu erfüllen. Die Kommunen stehen aber zugleich unter erheblichem Spardruck durch überbelastete Landeshaushalte. Dr. Ursula Schoen, Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz sieht hier eine reale Gefahr für die ländlichen Sozialräume: „Die äußerst prekäre finanzielle Lage vieler Kommunen in Ostdeutschland stellt unsere diakonischen Komplexträger vor Richtungsentscheidungen. Es sind oft einzelne diakonische Einrichtungen, die in ganze Sozialräume ausstrahlen. Sie bieten eine qualitätvolle soziale Versorgung von Kita über Beratungsstellen bis zum Hospiz an und tragen so maßgeblich zu gelebter Solidarität vor Ort bei. Das geht nur mit handlungsfähigen Kommunen. Flächendeckende Angebotseinschränkungen oder Standardabsenkungen können nicht die Antwort sein.”
Wie in einer aktuellen Studie von Sozial- und Wirtschaftsministerium zur Brandenburger Sozialwirtschaft festgestellt, sollte auch die künftige Bundesregierung die Sozialraumplanung priorisieren – nur so lassen sich vorhandene Ressourcen gezielt einsetzen, Versorgungslücken schließen und die Lebensqualität der Menschen in benachteiligten Regionen nachhaltig verbessern.
Dr. Schoen: „Der Brandenburger wie der Mecklenburger „Pakt für Pflege“ stärken gezielt Kommunen und damit die Menschen vor Ort - Hand in Hand mit der Diakonie. Diese Landesförderungen zeigen, wie Sozialräume durch flexible Angebote und durch Vertrauen in das Wissen der Menschen vor Ort unterstützt werden können. Ein positives Beispiel aus ostdeutschen Flächenländern, das auch für andere als Vorbild dienen kann.”
Für Zusammenhalt und ein demokratisches Miteinander
In der Zeit vor der Bundestagswahl haben diakonische und kirchliche Akteure wiederholt dazu aufgerufen, demokratische Grundwerte zu stärken und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Diese Erwartung richtet sich nun auch an das Regierungshandeln der kommenden Legislaturperiode.
Populistische, radikale und nationalistische Tendenzen sind eine Gefahr für das demokratische Miteinander. Politisches Handeln, das auf Ausgleich, Respekt und Beteiligung für alle Menschen in Ostdeutschland setzt, kann dagegen Vertrauen zurückgewinnen und Polarisierungen entgegenwirken.
Hintergrund
Die vier diakonischen Landesverbände vertreten als Dachverbände und sozialanwaltlich in zahlreichen demokratischen Gremien gegenüber der Landes- und Bundespolitik knapp 7.000 soziale Einrichtungen und Projekte mit 131.000 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Ihr Ansprechpartner

Sebastian Peters
Pressesprecher und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit
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