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Zehn Jahre Flüchtlingsarbeit in der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal:

Mario Drechsler blickt mit seinem Team zurück auf Herausforderungen, entstandene Gemeinschaft und berührende Schicksale. Ihr Fazit: Viel geschafft, viel gelernt – und Menschlichkeit verbindet noch immer.

  • Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, wie wir das alles geschafft haben.

    Mario Drechsler

Von einem Tag auf den anderen wurde Ende September 2015 Mario Drechsler, aus dem Bereich Teilhabe kommend, Leiter der Flüchtlingsunterkünfte unter dem Dach der Stiftung. Eine besondere Zeit, die ihre Spuren hinterließ – und ihre Erfahrungen, auf die er und sein Team heute noch bauen können.

Den 21.September 2015 wird Mario Drechsler nicht vergessen., Sein damaliger Chef und Leiter der Teilhabe in Lobetal, fragte ihn, ob er kurzfristig für die Leitung der Flüchtlingsunterkünfte innerhalb der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal zur Verfügung steht. Am folgenden Tag, um neun Uhr wolle der damalige Geschäftsführer mit ihm reden. Der leitete das Gespräch so ein, erinnert sich Drechsler: „Herr Drechsler, wir freuen uns, dass sie das machen.“ Damit war die Sache beschlossen.

Große Hilfsbereitschaft in diesen Tagen

Mario Drechsler leitet seit zehn Jahren die Flüchtlingsunterkünfte, die von der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal betreut werden. Hier informiert er bei einem Rundgang über das Konzept der Unterkunft Sydower Feld in Biesenthal. Das Foto stammt aus dem Jahre 2022.
Mario Drechsler leitet seit zehn Jahren die Flüchtlingsunterkünfte, die von der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal betreut werden. Hier informiert er bei einem Rundgang über das Konzept der Unterkunft Sydower Feld in Biesenthal. Das Foto stammt aus dem Jahre 2022.

Mario Drechsler denkt daran zurück, mit wie viel Kraft und Geschick allein die „Fremdversorgung“ der Einrichtung gewährleistet werden musste: Dreimal am Tag waren Mahlzeiten zu verteilen. Ohne die Hilfe unzähliger Ehrenamtlicher unmöglich! Gewonnen hatte man die unter anderem bei einer Veranstaltung in einer gegenüberliegenden Eberswalder Kirche. Mario Drechsler und Bereichsleiter Ralf Klinghammer brachten ihr Anliegen überzeugend rüber. Die Bereitschaft war groß, zu helfen. Aber auch die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, Verwaltungen und der Polizei musste anlaufen. „Mit der Polizei gab es dort sofort einen guten Draht und eine verlässliche Zusammenarbeit, bei der niemand auf die Uhr schaute“, erinnert sich Mario Drechsler dankbar. Was die Ehrenamtlichen angeht, meint Drechsler, dass insbesondere die Studentinnen und Studenten der Eberswalder Hochschule für nachhaltige Entwicklung einen besonders langen Atem hatten.

Viel Kraft, aber auch Enttäuschung

Mit einem Team von drei Kollegen, insgesamt 2,5 Stellen musste in diesem Herbst alles gelöst werden. Eine große Hilfe war da die Ankunft von Mustafa Mourad im Oktober 2015. Er kam selbst als Flüchtling 2002 aus dem Irak, hat Maschinenbau studiert und ließ sich zum Sozialarbeiter umschulen. Er war als arabischsprachiger Fachmann „Goldstaub“ für die vor allem aus Syrien und Afghanistan kommenden Menschen.

Noch heute ist er eine Säule in Drechslers vierköpfigem Team. Und wenn das eine oder andere Problem im Herbst und Winter 2015 zu groß schien, wenn sich die Meinungen mehrten, dass die Bedingungen zu hart oder gar unmenschlich wären, dann konnte Herr Mourad von seinen Erlebnissen berichten, von einem Ort, der wirklich harte Bedingungen bot: Althüttendorf. Die maroden DDR-Bungalows mitten im Wald waren für bis zu 60 Flüchtlinge zweitweise die einzige kreisliche Unterkunft. Von komfortablem Wohnen war das sehr weit entfernt.

Kommunikation mit der Nachbarschaft. Das Bild entstand bei einer Informationsveranstaltung des Landkreises Barnim und der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal vor Eröffnung der Flüchtlingsunterkunft Sydower Feld Biesenthal. "Wichtig ist, im Gespräch zu bleiben", sagt Mario Drechsler. Das ist alternativlos.
Kommunikation mit der Nachbarschaft. Das Bild entstand bei einer Informationsveranstaltung des Landkreises Barnim und der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal vor Eröffnung der Flüchtlingsunterkunft Sydower Feld Biesenthal. "Wichtig ist, im Gespräch zu bleiben", sagt Mario Drechsler. Das ist alternativlos.

Drechsler hat zwischen September 2015 und November 2016 eine Anwesenheitsliste geführt: Gut 2.200 Menschen „durchliefen“ in dieser Zeit die Eberswalder Eisenbahnstraße 100, bald ergänzt um ein Objekt in der Ossietzkystraße 11. „E100 und Ossi11 hießen sie bald in der Öffentlichkeit“, erinnert er. Die Zähne zusammen beißen musste er, als er einen Tag vor Heiligabend 2015 erfuhr, dass trotz anders lautender Zusagen 80 neue Geflüchtete aufzunehmen seien. Team hat auch das gemeistert.

In der Rückschau auf zehn Jahre Flüchtlingsarbeit unterm Stiftungsdach wird deutlich, wie intensiv die Suche nach besseren Lösungen, örtlich und technisch, war und ist. Aber egal wo und wie, immer stand bei der Arbeit mit den geflüchteten Frauen, Männern und Kindern der Anspruch vom Gründer Lobetals Friedrich von Bodelschwingh ganz oben: „Dass ihr mir Niemanden abweist.“ So hat man sich auch immer wieder bereit erklärt, sogenannte Problemfälle in Ützdorf aufzunehmen und diese zu begleiten.

  • Wir beweisen dort unsere Kompetenz, mit Menschen umzugehen, die schwere Traumata und Beeinträchtigungen haben,

beschreibt Mario Drechsler die dahinter liegende Fachlichkeit. Eine Kompetenz, die die Stiftung über Jahrzehnte ja auch andernorts und mit anderen Menschen bewiesen hat. Die Unterkünfte im Einzelnen stehen nie für sich alleine.

Zum Beispiel Ützdorf: In einem Dörfchen mit 26 Bewohnern, wohin nur der Schulbus fährt, fast die doppelte Zahl von Geflüchteten zu beherbergen – das will erklärt und organisiert sein. „Die Nachbarschaften unserer Unterkünfte haben meist ambivalent reagiert. Es gab Zweifel, es gab Gegenreden, aber es gab auch viel Hilfsbereitschaft. Wichtig ist, im Gespräch zu bleiben“, sagt Drechsler. Das ist bis heute alternativlos.

Von Gegenwind berichtet auch Drechslers jüngstes Teammitglied. Aisha Suleiman flüchtete mit ihrer Familie aus Syrien. Bei ihrer Erzieherausbildung in Eberswalde war sie Außenseiterin, fühlte sich gemobbt und bei Prüfungen benachteiligt, wurde von Teamarbeit ausgeschlossen. Sie wechselte ins Diakonische Bildungszentrum nach Lobetal. Dort machte sie andere Erfahrungen. Jetzt arbeitet sie nach erfolgreichem Prüfungsabschluss in Drechslers Team. Als Frau und als Kurdin ist sie für viele Ankommende erste Ansprechpartnerin. Besonders für Frauen.

Neue Herausforderungen seit dem Ukraine-Krieg

Die Flüchtlingsunterkunft Sydower Feld ist eines von vier Häusern, die von der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal betreut werden.
Die Flüchtlingsunterkunft Sydower Feld ist eines von vier Häusern, die von der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal betreut werden.

Man kann zehn Jahre Flüchtlingsarbeit nicht resümieren, ohne an Februar 2022 zu erinnern. Was nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mit großem Enthusiasmus und einer vielfach spontanen Willkommenskultur am Berliner Hauptbahnhof geleistet wurde, musste in „geordnete“ Bahnen verteilt werden. Neue Herausforderungen auch für die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, die auf die langjährige Erfahrung der Ukraine-Hilfe setzen konnte. Drechsler erinnert daran, dass es nun galt, sich vor allem auf, ältere Menschen, auf Menschen mit Behinderung, auf Frauen und Kinder einstellen sowie auf einen anderen verwaltungstechnischen Umgang mit Geflüchteten als bisher. Auch die Wohnungsfrage stellte sich neu und anders.

Gelebte Vielfalt als Gewinn, neue Menschen als Bereicherung

Im Rückblick ist sich Mario Drechsler sicher: Es war richtig, sich so intensiv in der Flüchtlingsarbeit zu engagieren, wie es die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal seit nun über zehn Jahren tut. Er kann den viel diskutierten Merkel-Ausspruch – Wir schaffen das - für sich so präzisieren: „Wir haben wirklich viel geschafft. Und im heutigen Arbeitsalltag zehren wir sogar von dem, was 2015 unter großen Entbehrungen geleistet wurde.“ Er wandelt den Merkel-Ausspruch auch noch einmal in anderer Weise ab: „Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, wie wir das alles geschafft haben.“

Er berichtet von Lernprozessen auch bei ihm, was das Verständnis fremder Kulturen und Bräuche angeht. Abendländische Höflichkeit, Frauen gegenüber, kann falsch verstanden werden, so gut sie gemeint ist. Da lernt Drechsler heute noch viel von Aisha Suleiman und Mustafa Mourad. Kraft gibt auch das gemeinsame Lachen und Feiern, wenn es zum Beispiel um Rituale der Weihnachtszeit oder des Zuckerfestes geht.

Mario Drechsler, Aisha Suleiman und Mustafa Mourad (v.l.) überlegen gemeinsam, wie die Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft am besten belegt werden können.
Mario Drechsler, Aisha Suleiman und Mustafa Mourad (v.l.) überlegen gemeinsam, wie die Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft am besten belegt werden können.

Andere Kulturen und Religionen, Menschen mit ganz anderen Geschichten und Prägungen, oft unvorstellbares Leid erlebt und ihre persönliche Geschichte, ihre Schicksale, ihre Fähigkeiten sieht Drechsler als einen Gewinn in seinem persönlichen Leben und für das ganze Land an. Im Gespräch mit dem gläubigen Muslim Mustafa Mourad findet der bekennende Christ bei Diskussionen über Bibel und Koran, über Familie und Kinder, über gerade angekommene Flüchtlinge und jene, die auf ihren eigenen Weg gehen und die Stiftung verlassen viele Gemeinsamkeiten. Menschlichkeit ist der gemeinsame Nenner. Das verbindet.

Wolfgang Kern

Andreas Gerlof

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