31.03.2022 | Abschluss Kältehilfe: Keine Trendwende beim Thema Obdachlosigkeit – Anzahl der Menschen ohne eigene Wohnung weiterhin auf einem sehr hohen Niveau
Die Anzahl der Notübernachtungsplätze der diakonischen Einrichtungen konnte auch in diesem Winter nicht reduziert werden. Es gibt zu wenige qualifizierte Hilfsangebote im Rahmen der Berliner Kältehilfe, um Menschen dauerhaft von der Straße zu holen. Hilfsorganisationen sehen noch große Hürden bei der Umsetzung der Senatsstrategie, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden.
Mindestens 2.000 obdachlose Menschen ohne feste Unterkunft leben in Berlin, die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich deutlich höher. Der Anteil von Frauen in Notübernachtungen liegt bei rund 22 Prozent. Knapp 50.000 haben keine eigene Wohnung und müssen staatlich untergebracht werden, davon etwa 33.400 in Wohnheimen laut allgemeinem Berliner Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG). Weitere 10.300 Menschen leben in Unterkünften für Geflüchtete. Zusätzlich kommen gerade viele tausend Menschen nach Berlin, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten. „Vor diesem Hintergrund müssen wir unsere Anstrengungen, die Menschen in Wohnungen oder menschenwürdige Unterkünfte zu bringen, um ein Vielfaches vergrößern“, mahnt Dr. Ursula Schoen, Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Zusammen mit den diakonischen Trägern Berliner Stadtmission, GEBEWO pro und dem Berliner Regionalverband der Johanniter zieht der Landesverband der Diakonie ein Fazit zum Endes des Winters.
„Auch in diesem Jahr konnten wir die Plätze der Kältehilfe nicht reduzieren, im Gegenteil: die Hilfe, die Menschen vor dem Erfrieren rettet, ist weiterhin dringend nötig“, fasst Schoen die Situation zusammen. Trotz der Herausforderungen der Pandemie konnten die diakonischen Einrichtungen ihre Plätze in der Kältehilfe stabil halten. Sie stellen insgesamt rund 70 Prozent aller Plätze für wohnungslose Menschen in Berlin zur Verfügung. Die neu geschaffenen sogenannten 24/7-Einrichtungen waren bereits kurz nach ihrer Eröffnung vollständig belegt. Hier können die Menschen auch tagsüber bleiben. Diese Plätze fangen vor allem Menschen auf, für die die Bezirke keine der sogenannten ASOG-Unterkünfte bereitstellen. „Hier klappt die Zusammenarbeit mit den Bezirken leider nicht immer gut: Zu viele Menschen bekommen keinen Platz in einem Wohnheim und somit keine Chance auf eine Neuorientierung“, so Schoen.
Die beiden Jahre der Corona-Pandemie waren für obdachlose Menschen besonders hart. Viele Notübernachtungen und Tagesstätten mussten durch Corona ihre Plätze reduzieren. Notübernachtungen sind nur nachts geöffnet und tagsüber haben obdachlose Menschen wenig Möglichkeiten, sich aufzuwärmen und aufzuhalten. Eine gute Möglichkeit hier zu helfen sind die Tagestreffs. Hier können sich die Menschen aufhalten und kommen unbürokratisch mit Sozialarbeiter:innen in Kontakt. „Unsere Angebote zeigen, dass der Bedarf sehr hoch ist. Obdachlose Menschen brauchen einen ganzjährigen Schutzraum“, sagt Martyna Zielkowska, Sozialarbeiterin der GEBEWO pro im Tagestreff Mitte.
Die Berliner Stadtmission geht davon aus, dass der kriegsbedingte Zuzug von Menschen aus der Ukraine nach Deutschland anhält und sich somit auch auf das Ziel der Europäischen Union auswirken wird, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden. „Zusätzlich zu den mehr als 2.000 aktuell in Berlin auf der Straße lebenden Menschen und jenen knapp 50.000, die hier in Übergangswohnformen untergebracht sind, benötigen auch die aus der Ukraine kommenden Menschen dringend Wohnungen. Abhilfe kann vermutlich nur eine Wohnungsbauoffensive schaffen, die am besten schon morgen startet“, sagt Ellen Eidt, Leiterin des Dienstbereiches Diakonie bei der Berliner Stadtmission. Anderenfalls fehlt die wichtigste Voraussetzung zur Beseitigung von Wohnungsnot, die ja längst auch unsere Mitarbeitenden und Familien des Mittelstandes betrifft.“
„Die gesundheitliche Situation von wohnungslosen Menschen ist weiterhin besorgniserregend“, sagt. Dr. Christian von Wissmann, Regionalarzt der Berliner Johanniter. Besonders hart sei die Situation für Menschen ohne Krankenversicherung. Die Johanniter und andere diakonische Einrichtungen bieten medizinische Angebote auch für Menschen ohne Ausweis oder Krankenversicherung an. „Für viele obdachlose Menschen ohne Papiere waren diese Sprechstunden oft die einzige Möglichkeit, den Impfschutz gegen Corona und eine fundierte Beratung zu erhalten“, erläutert von Wissmann.
In Folge der Pandemie sind psychische Erkrankungen noch deutlicher in den Fokus gerückt. Auch auf den Straßen leben viele Menschen mit schweren psychischen Problemen. Deutlich erkennbar war in dieser Kältehilfesaison ein starker Anstieg von jungen Menschen, die psychotisch waren. Der Umgang mit ihnen ist für nicht speziell ausgebildetes Personal schwierig, weshalb die diakonischen Einrichtungen deshalb nach Möglichkeit Psycholog:innen einsetzen.
„Eins muss uns klar sein: Kältehilfe beendet keine Wohnungslosigkeit“, stellt Dr. Ursula Schoen vom Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg fest. „Der Berliner Senat muss daher schnellstmöglich Konzepte entwickeln, wie die Menschen aus der Kältehilfe in gute, sozialarbeiterisch begleitete Unterkünfte kommen und ihnen die Hilfen gewähren, die sie benötigen, um am Ende in einer Wohnung leben zu können. Wir müssen die Durchlässigkeit des Hilfesystems erhöhen, Menschen mit psychischen oder Suchterkrankungen müssen sofort entsprechende Angebote erhalten, Hürden zur Hilfegewährung müssen abgebaut werden.“
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