Zu Hause in der Wohngruppe
In sogenannten "innewohnenden" oder auch "familienanalogen" Betreuungsformen lassen sich Pädagog:innen im Rahmen stationärer Jugendhilfe auf eine intensive Pädagogik in einem kleinen Rahmen ein. Sie leben mit wenigen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt. Zu Gunsten der Möglichkeit einer intensiveren Beziehungsgestaltung und eigenverantwortlicheren Arbeitens verzichten sie dabei auf die sonst übliche klare Trennung von "Privat" und "Arbeit".
Schon seit vielen Jahren beschäftigen sich Pädagog:innen mit der Frage, wie man Kinder und Jugendliche professionell aber in einem kleineren Rahmen als üblich - eben "familienanalog" -betreuen kann.
Oft geschieht dies aus dem Gefühl heraus, im Gefüge eines im Schichtdienst organisierten Teams von fünf bis sechs - machmal sogar sieben - ErzieherInnen und SozialpädogogInnen, den individuellen Bedürfnissen des einzelnen Kindes nicht ausreichend gerecht werden zu können. Manchen PädagogInnen bleiben die Beziehungen zu den Kindern in der gängigen Schichtdienstbetreuung zu distanziert, zu beliebig und wechselhaft.
Auch die Bindungsforschung gibt Hinweise darauf, dass es für Kinder einfacher ist, "nachnährende" Erfahrungen in einem individuelleren, nur auf wenige Erwachsene bezogenen Betreuungsangebot zu machen.
Immer wieder ergibt sich fachdiagnostisch ein entsprechender Bedarf nach Betreuung in einem kleineren Rahmen: Vor allem für Kinder und Jugendliche mit erhöhtem Förderbedarf, die sich aufgrund ihrer Lebensgeschichte besonders schwertun mit dem Zusammenleben, den emotionalen und sozialen Anforderungen, welche Alltagsleben, Freizeitgestaltung und schulisches Lernen an sie stellen, finden sich in familienanalogen Angeboten besser zurecht.
Auch im Rahmen kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnostik und Behandlung kommt es regelmäßig zu der dringenden Empfehlung der Fachärzte: Zur langfristigen Genesung und Entwicklung brauche es eine kleine, übersichtliche Gruppe von Kindern und wenige, kontinuierlich verfügbare erwachsene Bezugspersonen, die mit den Herausforderungen des Zusammenlebens professionell umgehen können.
Vor diesem Hintergrund sind bis heute verschiedene Modelle entstanden, in denen PädagogInnen mit den von Ihnen betreuten Kindern einen gemeinsamen Haushalt teilen und dort gemeinsam mit ihnen Wohnen (daher "Innewohnend"), z.T. werden sie dabei von hinzukommenden PädagogInnen unterstützt. Dies sind vor allem:
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Erziehungsstellen (EST)
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Erziehungswohngruppen (EWG)
(In Berlin finden sich zusätzlich seit einigen Jahren die sogenannten Wohngruppen mit alternierend innewohnender Betreuung (WAB). Ob es sich bei diesen rechtlich tatsächlich um ein innewohnendes Modell handelt ist umstritten und befindet sich aktuell in der verwaltungsgerichtlichen Klärung. Zu dieser Thematik und dem Modell an sich findet sich bei Interesse hier ein ausführlicher Artikel.)
Die Modelle unterscheiden sich in Organisationsform, Anzahl der innewohnenden PädagogInnen, sowie auch in der Anzahl der jeweils betreuten Kinder/Jugendlichen.
Die Grundidee der Erziehungsstelle ist die Aufnahme von ein oder zwei Kindern in den eigenen privaten Haushalt des/der PädagogIn. Dort werden die Kinder vollumfänglich betreut.
Im Rahmen einer Erziehungswohngruppe leben 3-6 Kinder mit ein oder zwei innewohnenden PädgogInnen (oft ein/e einzelner/r PädagogIn oder ein Paar) in einem gemeinsamen Haushalt. Die innewohnenden PädagogInnen werden durch stundenweise hinzukommende PädagogInnen unterstützt. Der Umfang dieser Unterstützung hängt von der Anzahl der Kinder ab.
Für Erziehungswohngruppen wird entsprechender Wohnraum i.d.R. von den Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Für Erziehungsstellen wird häufig der private Wohnraum des/r PädagogIn genutzt. Dies ist insbesondere dann sinnvoll, wenn bereits eigene Kinder des/der PädagogIn im Haushalt leben. Auch in Erziehungswohngruppen ist es manchmal gegeben, dass Angehörige der/des innewohnenden PädagogIn mit im gemeinsamen Haushalt leben.
In Berlin regelt der Berliner Rahmenvertrag Jugendhilfe die Grundlagen für Personalstruktur und Vergütung der einzelnen familienanalogen Angebote. Auf dieser Grundlage vereinbaren die einzelnen Einrichtungen/Träger die konkrete Umsetzung mit der Senatsverwaltung und schließlich mit den an dieser besonderen Betreuung interessierten PädagogInnen.
Gemeinsam ist allen innewohnenden Betreuungsformen, dass in Ihnen die Grenze zwischen "Arbeit" und "Privat" nicht mehr eindeutig zu ziehen ist. Entsprechend kann auch nicht wie sonst üblich, eine feste Wochenarbeitszeit gelten.
Diesem Umstand trägt der Gesetzgeber mit dem §18 des Arbeitszeitgesetzes Rechnung, der es engagierten PädagogInnen schon seit vielen Jahren gestattet, sich für familienähnliche Betreuungsmodelle zu entscheiden und öffentlichen wie freien Trägern der Jugendhilfe zu ermöglichen, solche Angebote rechtskonform zu kreieren. Viel Kinder konnten auf dieser Grundlage gesunden und von einem ihnen angemessenen Lebensort profitieren.
Um den PädagogInnen vor diesem Hintergrund einen materiellen Ausgleich für den besonderen Einsatz zu ermöglichen, den die Arbeit in innewohnenden Angeboten ohne Zweifel bedeutet - insbesondere für das weit über die klassische Wochenarbeitszeit hinausgehende Engagement, das damit verbunden ist - wurden im Berliner Rahmenvertrag Jugendhilfe zusätzliche Vergütungsanteile festgelegt. So sind, je nach Angebot und Anzahl der Kinder, Gehaltsaufschläge für die innewohnenden Pädagogen bis zu ca. 50% möglich.
Es ist gerade diese Kombination aus überdurchschnittlicher Vergütung, eigenständigem Arbeiten sowie der Möglichkeit zu einer sehr intensiven und individuellen Pädagogik, die für viele PädagogInnen den Tätigkeitsbereich "Innewohnen" so interessant macht. Die zusätzliche Einbettung in das professionelle und unterstützende Gesamtgefüge eines diakonischen Trägers mit den Möglichkeiten zu Supervision, Fortbildung und Fachberatung sorgen für ein durchaus "besonderes" aber somit auch hochattraktives Arbeitsfeld.
Autor: Volker Stock (Wadzeck-Stiftung)