01.12.2022 | Forschungsprojekt „Bildung in der stationären Erziehungshilfe“ beendet
(Durchführungszeitraum 2020–2022)
Wie alle jungen Menschen müssen sich auch Kinder und Jugendliche, die in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe leben, alterstypischen Entwicklungsaufgaben stellen. Dazu zählen auch bildungsbezogene Aufgaben.
Im Forschungsprojekt „Bildung in der stationären Erziehungshilfe“ wurde im Zeitraum von 2020-2022 die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen untersucht, die stationär bei freien Trägern der Berliner Kinder- und Jugendhilfe untergebracht waren. Dabei wurden sowohl die formale Bildung (wie z.B. das Erlernen von grundlegen den Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben, das Erreichen von Schulabschlüssen, die berufliche Bildung) als auch außerschulische Bildungsprozesse untersucht.
DWBO: Das Projekt wurde vom Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz gemeinsam mit der der Paritätischen Akademie Berlin (Paritätisches Jugendhilfeforum) und dem Institut für Innovation und Beratung an der Evangelischen Hochschule Berlin durchgeführt.
Bildungssituation in der stationären Jugendhilfe
Ein wichtiger Verdienst der durchgeführten Studie ist es, die Bildungssituation von stationär untergebrachten Kindern/Jugendlichen im Vergleich zur Berliner Schulstatistik 2020/21 abzubilden. Über die schulische Situation von jungen Menschen in stationären Hilfen zur Erziehung ist in Deutschland aktuell wenig bekannt: Seit 2007 wird die besuchte Schulform von jungen Menschen in Erziehungseinrichtungen nicht mehr durch die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik erfasst.
Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder und Jugendliche, die in stationären Einrichtungen untergebracht sind, besonders stark von schulischen Übergangshürden betroffen sind. So besuchten etwa zum Befragungszeitpunkt nur 8% der befragten Siebt- und Achtklässler das Gymnasium (Berliner Schulstatistik: 45%).
Nach Ende der allgemeinen Schulpflicht hatten 21% der Befragten (noch) keinen Abschluss (Berliner Schulstatistik: 8%). Fast dreimal so viele Jugendliche wie im Berliner Durchschnitt haben die Berufsbildungsreife oder die erweiterte Berufsbildungsreife erlangt; sehr wenige Jugendliche hatten zum Befragungszeitpunkt das Abitur.
36% der stationär untergebrachten Jugendlichen haben am Übergang in die berufliche Bildung Angebote der Berufsvorbereitung besucht (im Vergleich: 10% in der Berliner Schulstatistik). Im Vergleich zum Berliner Durchschnitt absolvieren zudem nur rund halb so viele junge Menschen aus stationären Einrichtungen eine duale Ausbildung. Im Vergleich zur Schulstatistik (11%) befinden sich ähnlich viele Jugendliche aus stationären Einrichtungen (7%) in der Fachoberschule oder auf dem beruflichen Gymnasium.
Homeschooling während der Corona-Pandemie als Herausforderung
Weitere interessante Ergebnisse der Studie betreffen die Zeit des Homeschooling: So war der Einsatz digitaler Medien im Rahmen des Schulbesuchs für die Hälfte der untergebrachten Kinder/Jugendlichen bereits vor Corona an der Tagesordnung. Insofern gaben „nur“ 34% der befragten Mitarbeiter:innen an, dass die Schulschließungen eine große psychische Belastung für die jungen Menschen darstellten. Zum Vergleich: In einer Elternbefragung des Ifo-Instituts waren es 39 %.
Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Erziehungshilfe haben möglicherweise durch den zusätzlichen Personaleinsatz vieler Diakonischer und Paritätischer Träger in Berlin profitiert: Bei der Hälfte der Träger sind Überstunden durch Homeschooling entstanden.
Die Studie hat jedoch auch gezeigt, dass die Voraussetzungen für digitales Lernen in stationären Kontexten oftmals erschwert sind. Gründe dafür sind die unzureichende technische Ausstattung, sowie die unterschiedlichen Klassenstufen und Schulformen mit jeweils eigenen Anforderungen innerhalb der Einrichtungen.
Möglichkeiten für außerschulisches und informelles Lernen
Durch die Studie wird das große Engagement von Einrichtungen in Bezug auf informelles Lernen und außerschulische Bildungsgelegenheiten deutlich. So sind gut drei Viertel der untergebrachten Kinder/Jugendlichen in außerschulischen Aktivitäten wie Sportvereinen oder Jugendverbänden eingebunden.
Auch innerhalb der stationären Einrichtungen gibt es vielfältige Lerngelegenheiten, in denen wichtige Lebenskompetenzen erworben werden, wie z.B. in demokratischen Vertretungsgremien, aber auch durch die Vermittlung hauswirtschaftlicher Fertigkeiten etwa durch regelmäßiges gemeinsames Kochen.
Unterstützungsangebote wirken sich positiv auf Bildungsverläufe aus
Die Untersuchung individueller Bildungsverläufe hat gezeigt, dass diese stark abhängig sind von der Lebenssituation der jungen Menschen. Gut zwei Drittel der untersuchten Bildungsbiografien (19 von 28 Fällen) sind gleichbleibend oder aufwärts verlaufen. Regelmäßige Lern- und Unterstützungsangebote der Wohngruppen sowie klare Tagesstrukturen können dabei positive Auswirkungen auf die Bildungsverläufe haben.
Je älter Jugendliche mit einer belasteten Bildungsbiografie bei der Aufnahme oder Überleitung in die stationäre Jugendhilfe sind, desto herausfordernder ist es, eine Trendwende zu erzielen und den Bildungsverlauf positiv zu beeinflussen.
Befragte junge Menschen fühlen sich gut unterstützt
Die Online-Befragung der stationär untergebrachten jungen Menschen zeigt, dass diese sich in den Einrichtungen überwiegend gut unterstützt fühlen. Mit zunehmendem Alter rücken die Themen „Schule“ und „Beruf“ stärker in den Fokus der Jugendlichen. Die befragten Jugendlichen sind bei der Bewertung ihrer schulischen beziehungsweise beruflichen Zukunftsperspektive dabei weniger optimistisch als andere.
Botschaft an die Politik: Bildungsauftrag der Hilfen zur Erziehung bislang unterschätzt
Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass der Bildungsauftrag der Hilfen zur Erziehung bisher unterschätzt wird. Das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und die Paritätische Akademie Berlin (Paritätisches Jugendhilfeforum) haben daher aus der Studie einige Impulse zur Weiterentwicklung des Bildungsauftrages der stationären Erziehungshilfen abgeleitet:
„Hilfen zur Erziehung haben bisher keinen expliziten Bildungsauftrag. Sie tragen jedoch entscheidend dazu bei, dass Bildungsbenachteiligungen identifiziert und aufgebrochen werden.“
- Im Rahmenvertrag BRVJug muss der Bildungsauftrag explizit verankert werden!
„Unterstützungsbedarfe im Bildungsbereich sind höchst individuell. Hilfen zur Erziehung müssen darauf angemessen reagieren und individualisiert gestaltet werden können.“
- In der Anlage D.6 des BRVJug muss die Möglichkeit für ein Modul „Bildungsförderung“ geschaffen werden!
- Es sind Standards für die Bildungsförderung in Einrichtungen zu entwickeln!
- Die jugendhilfespezifische Bildungsförderung muss als Lehrinhalt in der Erzieher:innen-Ausbildung implementiert werden!
- Einrichtungen sind dabei zu unterstützen eigene Konzepte zur Bildungsförderung zu entwickeln!
„Das Engagement von Einrichtungen in Bildungsfragen ist hoch; dies muss auch im digitalen Raum wirksam werden.“
- Die Digitalisierung der stationären erzieherischen Hilfen muss vorangetrieben werden (Ausstattung der jungen Menschen mit Endgeräten, IT-Struktur inkl. Support, Fort- und Weiterbildungen für Mitarbeitende)!
„Bildungsförderung lohnt sich in jedem Fall.“
- Mittel für Nachhilfe müssen im Hilfeplanverfahren unabhängig von einer akuten Versetzungsgefahr gewährt werden!
- Möglichkeiten für temporäre engmaschige Begleitung, z.B. bei Konflikten in der Schule und Übergängen müssen geschaffen werden!
„Informelle und non-formale Bildung hat einen hohen Stellenwert für gelingende Bildungsverläufe in den Einrichtungen.“
- Bildung in der Jugendhilfeplanung ist weiter zu fassen, als in den Kategorien Schule/Schulnoten!
- Schnittstellen zu anderen Bildungseinrichtungen, zu non-formaler und informeller Bildung sind zu erschließen und zu berücksichtigen.
Beispiel:
Die Geschäftsführerin vom Evangelischen Luisenstift, Birgit Labes betont, wie wichtig es sei, dass Erzieher:innen in den Einrichtungen an der Seite der Kinder und Jugendlichen stehen, wenn es um schulische Anforderungen geht: Immer zu wissen, bei welchem Jugendlichen welche Klassenarbeiten anstehen, welche Hefter abgegeben werden müssen und welcher Elternabend demnächst ansteht, das sei bei einer 10-er Gruppe schon relativ aufwändig. Die schulische Bildung sei dennoch ein Schwerpunkt im Betreuungsalltag, denn bei Bildung geht es um nichts weniger als um die Chancen und Perspektiven der jungen Menschen.